Oliver Kipper (Darmstadt, Germany)
1.
Mit seinem Beschluss vom 19. Mai 2020 hat das OLG Frankfurt am Main eine bedeutsame und praxisrelevante Entscheidung getroffen, die im Lichte der neueren Rechtsprechung des EuGH eine Wende in der Auslieferungspraxis von EU-Bürgern an Drittstaaten herbeiführt. Erfreulicher Weise im Sinne der Betroffenen.
In der Sache hatte das OLG Frankfurt am Main über einen Auslieferungsantrag eines US Bundesbezirksgerichts zu entscheiden, der sich gegen eine italienische Staatsangehörige richtete, die wegen der Begehung diverser Straftaten im Zusammenhang mit dem Verkauf gefälschter Kunst in den Vereinigten Staaten, angeklagt ist. Wegen der identischen Taten wurde die Verfolgte jedoch bereits durch ein Strafgericht in Mailand am 8. Januar 2013 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Das Gericht hat die Auslieferung mit der Begründung, sie verstoße gegen das Doppelbestrafungsverbot, als unzulässig abgelehnt.
Diese Entscheidung des OLG Frankfurt am Main ist vor dem Hintergrund der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in Europa und der Europäischen Union zu sehen. Mit ihr ist das Auslieferungsrecht als zentraler Teil des deutschen Rechtshilferechts – endlich – auf der Höhe der Zeit angekommen. Sie stellt klar, dass im Lichte der Rechtsprechung des EuGH eine Auslieferung europäischer Staatsbürger an Drittstaaten nicht von der Frage abhängen darf, welcher europäischen Nationalität die verfolgte Person angehört. Damit sichert sie die Position aller Bürger der Europäischen Union und stärkt die Union als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ im Sinne des Art. 3 Abs. 2 EUV.
2.
Lange Zeit galt im deutschen Auslieferungsrecht der Grundsatz, dass nur Deutsche gemäß Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG absolute Sicherheit vor einer Auslieferung an einen ersuchenden Staat genießen. Und auch wenn diese absolute Sicherheit durch die Einführung des Europäischen Haftbefehls und die damit einhergehende Anpassung in Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aufgeweicht wurde, galt und gilt für Nicht-EU-Staaten (Drittstaaten) auch weiterhin, dass eine Auslieferung Deutscher Staatsbürger nicht möglich ist.
Bemerkenswerter Weise hat die Anpassung der Regelungen über die Auslieferung Deutscher an Mitgliedsstaaten der Europäischen Union keine erkennbaren Auswirkungen hinsichtlich der Frage gehabt, in wieweit EU-Bürger in Deutschland ein Auslieferungsprivileg genießen dürfen. Im Gegenteil, noch im Jahr 2014 hat das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung desselben Senats des OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 22. Januar 2014, 2 AuslA 104/13) für nicht verfassungswidrig erklärt, wonach das Deutschenprivileg des Art. 16 Abs. 2 GG keine Anwendung auf Unionsbürger findet (BVerfG NJW 2014, 1945). Dies war besonders erstaunlich vor dem Hintergrund, dass innerhalb des EU-Rechts durchaus eine Anpassung der Schutzmechanismen an die gewollte Ausweitung der innereuropäischen justiziellen Zusammenarbeit erfolgt ist.
Insbesondere gilt nunmehr, dass nach Art. 54 SDÜ und Art. 50 EU-GrCh der Grundsatz des ne-bis-in-idem, der schon seit jeher einen wesentlichen Bestandteil des nationalen Rechts bildete, auch in Fällen der transnationalen Rechtshilfe innerhalb der Europäischen Union Anwendung zu finden hat.
Doch auch diese Entwicklung führte zunächst nicht zu einer Annahme eines Auslieferungsverbots in Fällen, in denen bereits eine innergemeinschaftliche Verurteilung erfolgt ist. Dies zeigten Entscheidungen des OLG München (Beschluss vom 7. Dezember 2012, 14 AuslA 1156/12: „eine Auslieferung ist aber keine (Straf-)’Verfolgung’smaßnahme im Sinne des Art. 54 SDÜ“) oder des OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 12. November 2013, 2 AuslA 87/13: „Im internationalen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen stellt die Auslieferung eines Verfolgten an einen anderen Staat zur Strafvollstreckung aber nur eine Unterstützungshandlung zu dessen Strafvollstreckung dar, und wird nicht zur eigenen Strafverfolgung gezählt.“).
3.
In seiner jüngsten Entscheidung kehrt nunmehr das OLG Frankfurt am Main von seiner langjährigen Rechtsprechung ab und erklärt die Auslieferung der bereits rechtskräftig verurteilten italienischen Staatsbürgerin für unzulässig. Dieser Auslieferung stehe das Auslieferungshindernis des Doppelbestrafungsverbots gemäß Art. 8 D‑USA AuslVertrG / Art. 9EurAuslÜbk entgegen, auf das sich die Republik Italien auch gegenüber dem Gericht zugunsten der Verfolgten berufen hat. Das Gericht führt insoweit zutreffend aus, dass sich das Auslieferungshindernis zwar nicht aus dem Wortlaut der Art. 8 D‑USA AuslVertrG / Art. 9EurAuslÜbk ergeben würde, da danach „die Auslieferung nur in Fällen nicht bewilligt wird, in denen die Verfolgte wegen der Straftat, derentwegen um Auslieferung ersucht wird, von den zuständigen Behörden des ersuchten Staates bereits rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist“. Dies würde voraussetzen, dass die Verfolgte Deutsche wäre. Das OLG Frankfurt am Main sieht sich aber – zurecht – „aufgrund der europarechtlichen Verpflichtung Deutschlands im Verhältnis zu dem Mitgliedstaat Italien gehalten, dessen Verurteilung der Verfolgten als Auslieferungshindernis gegenüber einem Drittstaat anzuerkennen“.
Dazu verweist das Gericht auf zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die die Frage der Zulässigkeit einer Auslieferung im Kontext von Art. 18 und 21 AEUV, also von Diskrimierungsverbot und Freizügigkeit, beleuchten.
So hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 6. September 2016 (C-182/15 „Petruhhin“, NJW 2017, 378) ausgeführt, dass ein EU-Mitgliedstaat, der durch einen Drittstaat zur Auslieferung eines Staatsangehörigen eines anderen EU-Mitgliedstaates ersucht wurde, zunächst dem anderen EU-Mitgliedstaat die Möglichkeit einräumen müsse, die Strafverfolgung seines Staatsangehörigen selbst durchzuführen. Dazu ist dem EU-Bürger im ersuchten Staat der gleiche Schutz vor Auslieferung zu gewähren, der auch in dessen Heimatstaat gewährt würde, da nur so der Grundsatz der Freizügigkeit aller EU-Bürger innerhalb der Europäischen Union gewährleistet werden könne.
Darüber hinaus bezieht sich das Gericht auf das Urteil des EuGH vom 10. April 2018 (C-191/16 „Pisciotti“, NJW 2018, 1529), in dem das „Petruhhin“-Urteil dahingehend ergänzt wird, dass die darin festgelegten Grundsätze selbst dann Geltung finden müssen, wenn, wie im vorliegenden Fall, der ersuchte Mitgliedstaat ein Auslieferungsabkommen mit dem Drittstaat geschlossen hat.
In einem letzten überzeugenden Schritt stellt das OLG Frankfurt am Main fest, dass es, wenn es im Lichte der Entscheidungen „Petruhhin“ und „Pisciotti“ gehindert wäre, die Verfolgte an die Vereinigten Staaten von Amerika auszuliefern und stattdessen ihrem Heimatstaat Italien das Recht an einer Strafverfolgung hätte vorrangig einräumen müssen, das Auslieferungsverbot „im Falle einer bereits rechtskräftigen Verurteilung erst recht gelten müsse“.
4.
Die Entscheidung des OLG Frankfurt am Main ist inhaltlich vollumfänglich zutreffend und unbedingt zu begrüßen. Interessant und sicher etwas ungewöhnlich ist allerdings, dass das Gericht zwar das Doppelbestrafungsverbot letztlich als Grund für die Unzulässigkeit der Auslieferung heranzieht, diesen Grundsatz jedoch nicht in einer Rechtsnorm verortet. Tatsächlich bleiben insbesondere die Art. 54 SDÜ und 50 EU-GrCH in dem gesamten Beschluss, wie auch schon in den Entscheidungen des EuGH unerwähnt. Viel spricht jedoch dafür, dass Art. 54 SDÜ und 50 EU-GrCh jedenfalls mittelbar zu einem Auslieferungsverbot führen und auch im vorliegenden Fall die relevanten Rechtsvorschriften bilden (so auch Hiéramente, jurisPR-StrafR 13/2020 Anm. 2).
Für die zukünftige Praxis ist die Entscheidung des OLG Frankfurt am Main ein Richtpfosten, den es zu beachten gilt. Aus den sich – aufgrund der Vorgaben des EuGH – getroffenen Gründen des Beschlusses werden alle deutschen Staatsanwaltschaft und Gerichte den Grundsatz des ne-bis-in-idem fortan im Rahmen des Auslieferungsverkehrs zu berücksichtigen haben. Bereits der Erlass eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls wird in vielen Fällen, in denen die verhaftete Person eine Verurteilung wegen des gleichen Sachverhalts in einem EU-Mitgliedstaat vorträgt, unverhältnismäßig sein. Stattdessen wird in diesen Fällen regelmäßig die Außervollzugsetzung des Auslieferungshaftbefehls gegen geeignete Maßnahmen in Betracht zu ziehen sein. Es wird immer auch die Aufgabe des Rechtsbeistandes sein, einerseits die Vereinbarkeit einer Auslieferung mit den Grundsätzen der Freizügigkeit aus Art. 21 AEUV und des Doppelbestrafungsverbots aus Art. 54 SDÜ und Art. 50 EU-GrCh zu prüfen und andererseits die Verhältnismäßigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahmen in Fällen, in denen bereits bei Verhaftung ein Auslieferungshindernis im Sinne des vorliegenden Beschlusses des OLG Frankfurt am Main in Betracht zu ziehen ist, anzumahnen.